Der Moment der Stille – Alles wird gut, sie schafft das!
Ich erinnere mich nur noch vage an diesen Tag. Zu oft habe ich ihn in meinen Träumen durchlebt, immer wieder bin ich schweißgebadet aufgewacht. Es kostet mich jedes Mal unendlich viel Kraft, mich dem zu stellen. Heute träume ich seltener davon – aber wenn, dann trifft es mich noch immer mit der gleichen Wucht.
Überall war Blut. Es floss. So etwas hatte ich noch nie gesehen, nicht einmal in meiner Vorstellung für möglich gehalten. Die Sekunden dehnten sich zu Minuten, die Minuten zu Stunden. Ich sah die Angst in ihren Augen, und doch versuchte ich meine eigene zu unterdrücken – aus Furcht, ihre noch größer werden zu lassen.
„Es wird alles gut, der Krankenwagen ist gleich da“, hörte ich mich sagen. Vielleicht sprach ich weniger zu ihr als zu mir selbst, um mir Mut und Hoffnung einzureden. Dann die Sirenen – erst leise, dann immer näher kommend. „Hörst du? Sie kommen!“
Doch alles verschwimmt.
Drei Sanitäter, die mit der Situation überfordert wirken. „Können Sie laufen?“ Ich kann nicht glauben, was ich höre. „Sehen Sie das ganze Blut nicht? Wir müssen sie tragen!“
Nach wenigen Schritten bricht ihr Kreislauf zusammen. Mein Herz rast. Ohne nachzudenken, höre ich mich selbst laut und bestimmt sagen: „Nimm die Füße! Los jetzt, wir müssen los…!“
„Dein wahres Leben beginnt, wenn du aufhörst, es für andere zu leben“
Vivi und Sascha
Mein Mantra
Im Krankenwagen kommt sie langsam wieder zu sich. Die Sanitäter tun ihr Bestes, versorgen sie und versuchen, sie zu beruhigen. Während sie wichtige Absprachen treffen – in welches Krankenhaus sie gebracht wird, welche Maßnahmen jetzt nötig sind – fahren sie schließlich los.
Ich bleibe zurück, sehe dem Wagen hinterher und höre mich flüstern: „Alles wird gut. Sie schafft das!“
Schnell packe ich das Nötigste in Walter, unseren Bus. Dann wische ich das Blut auf – im Treppenhaus, im Bett. Ich will nicht, dass mein Schwiegervater das sieht. So gut es geht, versuche ich, Ordnung zu hinterlassen, spreche kurz mit ihm, erkläre, was passiert ist. Dann mache ich mich auf den Weg zu Vivi ins Krankenhaus.
Es sind nur wenige Minuten Fahrt, doch immer und immer wieder spreche ich es vor mich hin: „Alles wird gut. Sie schafft das.“
Oft habe ich bereits darüber gesprochen, und doch fällt es mir nicht leichter. Noch immer werden meine Augen feucht, und ich muss schlucken.
Du gehst nicht in meiner Schicht
Sie war bereits auf der Station, als ich eintraf – allein im Zimmer, die Schwester erwartete mich bereits.
Vivi war stabil, bekam Flüssigkeit, und die Blutung war vorerst gestoppt. Es war gegen 20 Uhr, als alles begann, doch mein Zeitgefühl verschwamm in dieser Nacht. Vielleicht war es gegen 22 Uhr, als die Blutung erneut einsetzte – stark und heftig. Doch zum Glück waren wir im Krankenhaus, und das war gut. Ihr Kreislauf brach wieder zusammen. Die Schwester reagierte sofort, brachte das Bett in Schocklage – den Kopf nach unten, die Beine hoch. Eine weitere Infusion mit Kochsalzlösung wurde angelegt, um den Kreislauf zu stabilisieren. Dann kehrte für einen Moment etwas Ruhe ein.
Erschöpft ließ ich mich auf das zweite Bett fallen – angespannt und innerlich leer. Was war hier gerade geschehen?
Gegen 2 Uhr riss mich Vivis Stimme aus dem Schlaf: „Ich blute wieder.“
Die Schwester war schnell da. Wieder das gleiche Prozedere – Kreislauf stabilisieren, eine weitere Infusion, Ratlosigkeit.
Die Schwester und die Ärztin wirkten unsicher, vielleicht auch überfordert. Schließlich kamen sie zu dem Schluss, dass nur eine Notbestrahlung die Blutung stoppen könnte. Doch hier in Hamm war das nicht sofort möglich. Deshalb sollte Vivi nach Münster ins UKM verlegt werden. Alles wurde vorbereitet, ein Krankenwagen mit Notarzt bestellt.
Da sie bereits viel Blut verloren hatte, bekam sie eine Blutkonserve – eine Erythrozytenkonzentrat (EK). Es sollte nicht die letzte an diesem Tag sein.
Der Satz der Schwester, den sie uns bei einem späteren Aufenthalt sagte berührte mich tief:
„Du gehst nicht in meiner Schicht.“
Diese Worte trugen so viel Mitgefühl und Ernsthaftigkeit in sich. Es war nicht nur eine Floskel – sie meinte es wirklich so. Es war ihre Art zu sagen: „Ich passe auf euch auf. Solange ich hier bin, wird nichts passieren.“
Liebe
Das Bedürfnis, all das so detailliert aufzuschreiben, kommt aus tiefstem Inneren.
Es gibt Momente im Leben, in denen man die Liebe und die tiefe Verbundenheit zu seinem Partner stärker spürt als je zuvor. In dieser Nacht habe ich Vivi fünf Mal gehen sehen. Ich habe die Angst in ihren Augen gesehen, ihre Hilflosigkeit und Verzweiflung. Es war das schlimmste Gefühl, das ich je erlebt habe – eine Wucht, die mich völlig überwältigte.
In diesem Moment nichts mehr in der eigenen Hand zu haben, keinen Einfluss nehmen zu können, nur noch hoffen zu können – das war das härteste, was ich je fühlen musste. Und genau in diesem Moment habe ich mit jeder Faser meines Seins verstanden, was es bedeutet zu sagen:
„Ich liebe dich.“
Nun nehme ich mir eine Pause, die ich brauche. Es ist verständlich, dass all diese Erinnerungen vieles wieder hochholen. Doch genau das zeigt auch, wie wichtig es ist, diese Geschichte zu erzählen – für mich, für Vivi und für alle, die vielleicht selbst einmal vor schweren Entscheidungen stehen.
Oft erleben wir, dass Worte unterschiedlich gehört und verstanden werden. Manchmal spricht man von der Sonne, doch das Gegenüber hört nur von Bergen und Flüssen.
Ich spreche viel darüber, wie wir leben und warum wir uns bewusst für diesen Weg entschieden haben – ein Leben fernab von Konventionen, mit einer Arbeit, die uns erfüllt und Freude bringt. Ein Leben, das uns erlaubt, das zu tun, was wir möchten.
Ja, ich spreche darüber, um zu inspirieren. Und die vielen Nachrichten, die uns erreichen, zeigen, dass wir für viele Menschen genau das sind – eine Inspiration. Doch nicht jeder hört wirklich zu oder versucht zu verstehen. Wir sagen niemandem, wie er sein Leben leben soll. Jeder geht seinen eigenen Weg.
Was wir jedoch möchten, ist, dazu aufzurufen, in sich selbst hineinzuhören – so wie wir es getan haben. Lebst du das Leben, das du wirklich willst? Oder nur das, was andere von dir erwarten? Setzt du dir selbst Grenzen und Pflichten, die vielleicht gar nicht notwendig sind?
Es lohnt sich, darüber nachzudenken.
Wir sind dankbar für all die Menschen, die ihre Arbeit mit Leidenschaft ausüben – für diejenigen, die ihre Berufung leben, weil sie es wirklich wollen. Ihr Einsatz bedeutet so viel.
Gleichzeitig hoffen wir, dass auch all die anderen den Mut finden, in sich hineinzuhören. Dass sie erkennen, ob sie wirklich ihr eigenes Leben leben – oder nur eines, das von Erwartungen und äußeren Zwängen bestimmt wird.
Jeder von uns trägt die Verantwortung für sein Leben. Selbstbestimmt und frei.
Lies die Fortsetzung vorab!
Dieser Blogbeitrag ist Teil unserer fortlaufenden Geschichte. Möchtest du den nächsten Teil schon jetzt lesen?
Melde dich für unseren Newsletter an und erhalte jeden Beitrag einen Monat früher direkt in dein Postfach – exklusiv und persönlich.
Hat dich der Beitrag berührt?
Dann hinterlasse gerne einen Kommentar! Wir freuen uns, deine Gedanken und Eindrücke zu lesen. Dabei bitten wir dich, respektvoll zu bleiben. Deine Worte sollten wertschätzend formuliert sein, auch wenn du vielleicht eine andere Meinung hast.
Kommentare:
6 Kommentare
Einen Kommentar abschicken
Unsere Blog-Beiträge
Wir hoffen, dass der Artikel für dich interessant war und dich vielleicht auch inspiriert hat.
Noch Fragen?
Wir freuen uns natürlich immer sehr über einen Kommentar.
Schreib uns gerne eine Nachricht und nutze dazu das unten stehende Formular.
Lass uns in Kontakt bleiben
Egal, ob Fragen oder Anregungen, wir freuen uns immer über eine Nachricht von dir!
Mir fehlen die Worte und ich kann dir nur viel stärke wünschen.
So schnell wie alles passierte, von der Entdeckung der Krankheit bis zum Tod …
Nehmen Sie sich Zeit, das alles zu verarbeiten🙏🏼
🤍🤍🤍Lieber Sascha, von Herzen weiterhin viel Kraft, Licht und Liebe für dich. So viele Menschen trauern gerade mit dir. Ich schicke dir eine feste Umarmung, nimm dir die Zeit die du brauchst. Wir bleiben an deiner Seite🙏🏻
Danke Sascha,
es hat mich sehr berührt was Du geschrieben hast.
🤍Simone
Lieber Sascha, Es berührt mich sehr was du schreibst und ich kann nicht die richtigen Worte finden….nur, es tut mir so unendlich Leid. Ich wünsche dir viel Kraft
Wir waren vor vielen Jahren befreundet und ich wünschte ich hätte mich gemeldet…
so viel liebe die hier fließt, danke das Sascha 🥹🤍✨
Danke Vivi für dein magisches Lebenswerk ❤️
Das ist eine Erinnerung,jede Sekunde, Minute zu schätzen 🙏🏻
von Herz für Herz!