Der Moment der Stille – Der schmerzhafteste Tag bis dahin
Alles fühlte sich an wie ein Traum. Als würde ich neben mir stehen. Die Stimmen der Schwestern, der Ärzte, die Sanitäter, der Notarzt – alles wie gedämpft. Und Vivi. Ihre Augen – voller Angst, schwach, müde. Und ich – völlig hilflos.
Als der Krankenwagen mit Blaulicht und Notarzt davonfuhr, stand ich einfach nur da. Leer. Ratlos. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Doch meine Beine trugen mich wie von selbst zu Walter, unserem Bus. Ich stieg ein und fuhr los.
Mein Mantra immer noch auf den Lippen, immer und immer wieder:
„Sie schafft das. Alles wird gut. Sie schafft das. Alles wird gut. Sie schafft das. Alles wird gut.“
Gegen vier Uhr dreißig war ich bei Vivi auf der Station angekommen. Die Uniklinik in Münster ist riesig, und wenn man das erste Mal dort ist, fühlt man sich vollkommen verloren. Zum Glück war Vivi schon auf der Station. Es ging ihr den Umständen entsprechend gut.
“In meinem Leben geht es um mich.”
Vivi und Sascha
Ich setzte mich an ihr Bett, ließ meinen Kopf auf die Matratze sinken und versuchte, für einen Moment zur Ruhe zu kommen.
Alles, was an diesem Tag geschah, ist so tief in mein Gedächtnis eingebrannt, dass ich es beinahe haarklein wiedergeben könnte. Doch ich habe große Angst, dass ich es mental nicht schaffe. Deshalb werde ich mich zunächst auf eine Zusammenfassung beschränken.
Gegen acht Uhr kam die Ärztin zur Untersuchung – und erneut setzte eine Blutung ein. Dieses Mal so stark, dass sie ohne zu zögern einen Herzalarm auslöste. Innerhalb von Sekunden füllte sich das Zimmer mit gefühlt zwanzig Menschen.
Ich stand wie erstarrt da, unfähig zu begreifen, was gerade geschah. So viele Menschen, so viel Bewegung, und mittendrin Vivi – ihr Kreislauf war zusammengebrochen, sie lag kopfüber in Schocklage im Bett.
Doch nach wenigen, unendlich langen Minuten stabilisierte sich ihr Kreislauf wieder. Die Blutung konnte gestoppt werden. Für den Moment.
Vivi muss an diesem Tag insgesamt um die acht Bluttransfusionen erhalten haben. Gegen 14:00 Uhr sollte endlich die Notbestrahlung durchgeführt werden. Am Vormittag war bereits eine Tamponade gesetzt worden, nun wollten die Ärzte diese entfernen, die Situation neu bewerten und eine frische Tamponade einsetzen. Ich stand direkt neben ihr, als sie begannen.
Blut, immer wieder so viel Blut
Kaum war die Tamponade gezogen, begann es erneut – heftig, massiv, unaufhaltsam. Die Blutung setzte sofort und stark ein, und wieder brach ihr Kreislauf zusammen. Ärzte und Pflegepersonal wurden alarmiert, ein Herzalarm wurde ausgelöst. Immer mehr Menschen strömten ins Zimmer. Ein Oberarzt kam dazu, die Anspannung war greifbar. Ich weiß nicht mehr genau, wann, aber irgendwann stand ich plötzlich draußen auf dem Flur. Eine Schwester hatte mich gebeten, den Raum zu verlassen. Doch ich konnte nicht.
Ich brachte nur ein lautes, bestimmtes „Nein“ hervor – nicht wütend, sondern verzweifelt. Sie sah mich erschrocken an, doch ich konnte und wollte einfach nicht gehen. Ich musste da sein. Musste sehen, was passiert.
Immer wieder kamen Menschen mit Blutkonserven ins Zimmer – voll hinein, leer wieder hinaus. Unaufhörlich. Es war kaum auszuhalten. Und in genau diesem Augenblick habe ich Vivi zum fünften Mal gehen sehen.
Die nächste Op
Minuten später holte mich der Oberarzt wieder ins Zimmer. Vivi war wieder einigermaßen stabil. Er erklärte mir ruhig, aber bestimmt, dass eine Notbestrahlung in ihrem Zustand nicht mehr möglich sei. Ihr Körper war zu geschwächt, die Situation zu instabil. Es müsse nun eine Not-OP durchgeführt werden.
Die Arterien, die den Tumor versorgen, müssten verschlossen werden – embolisiert – um die Blutung zu stoppen. Eine endgültige Lösung sei das nicht, betonte er. Aber eine notwendige Maßnahme, um überhaupt wieder eine Basis zu schaffen. Um Zeit zu gewinnen. Vielleicht zwei bis drei Tage, in denen man dann mit der Bestrahlung beginnen könne.
Gegen 16:30 Uhr fuhren wir mit ihrem Bett zum OP. Ich konnte einen Großteil des Weges bei ihr bleiben, doch am OP musste ich draußen warten. Tatsächlich war es so, dass ungefähr alle 10 Minuten irgendjemand herauskam und mir einen kurzen Zwischenstand berichtete: „Sie macht das gut, sie ist bei Bewusstsein. Sie hält sich tapfer. Es hat alles gut funktioniert. Wir beginnen jetzt mit der anderen Seite.“
Ich war so dankbar für die mitfühlenden Ärzte und Schwestern, dass ich jedes Mal Tränen in die Augen bekam. Inmitten der ganzen Angst und Unsicherheit fühlte ich mich von diesen kurzen Nachrichten getragen und konnte die Last für einen Moment ein Stück weit ablegen.
Die OP dauerte insgesamt circa eine Stunde. Das Ganze ohne Narkose, denn sie musste bei Bewusstsein bleiben. Als wir wieder auf dem Zimmer waren, hatte ich das Gefühl, dass jegliche Kraft aus ihrem Körper verschwunden war. Doch trotz allem waren wir beide einfach nur dankbar, diesen Tag überstanden zu haben und voller Hoffnung, den nächsten Tag erleben zu dürfen.
Es war ein Moment der Erleichterung, aber gleichzeitig auch eine stille Anerkennung der unglaublichen Stärke, die Vivi in diesem Moment zeigte. Es gab keinen Raum für Worte, nur für das Gefühl, dass wir diesen Kampf gemeinsam führten – jeder auf seine Weise, aber immer zusammen.
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Lieber Sascha!
Erstmal ganz liebe Grüße von Österreich nach Schweden 😉
Ich habe Deine 4 “ich schreibe es mir von der Seele-Berichte” soeben gelesen. Mit Tränen in den Augen…
Ein Verlust ist wohl das Schmerzvollste was wir erleben können. Ich denke, jeder hier hat so sein “Rucksackerl” zu tragen. Aber warum müssen manche soo groß sein?? Warum nur??
Ich finde es toll, wie Du mit der Trauer und der Aufarbeitung umgehst. Alles ist richtig, denn es ist DEINES. Auch jede Emotion die Dich begleitet ist heilsam. Jeder macht es anders und das ist gut so. Wir brauchen Menschen wie Dich, die es in die Welt hinaustragen.
Ich wünsche Dir weiterhin alles, alles Gute, Kraft, Stärke, Zeit, alte und neue Rituale, Erinnerungen, Sonnenschein, einen Deinen See, Deine Reise, Tränen der Trauer und Tränen vom Lachen.
Liebe Grüße, Alexandra